Zarmanazan

Die Geschichte entstand in Zusammenarbeit mit der Jerewaner Außenstelle des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich Böll Stiftung und EVN Report

Die deutsche Übersetzung kam im Rahmen des vom Goethe-Zentrum Eriwan initiierten Vice-Versa DEU/ARM Übersetzungsseminars zustande.

Geworg Ter-Gabrieljan: Zarmanazan

Übersetzung: Anahit Avagyan & Wiebke Zollmann

 Illustrationen:  Harut Tumaghyan

Einer armenischen Legende nach hatte ein König drei Töchter: Zanazan (vielfältig), Zarmanazan (vielfältig und bewundernswert) und Aregnazan (sonnenschön). Der König aber wünschte sich einen Jungen. Eine der Töchter, Aregnazan, lief unter einem Regenbogen hindurch und wurde zu einem Jungen namens Areg. In Ghazaros Aghajans Werk „Aregnazan oder eine magische Welt“ spiegelt sich diese Legende wider.

 

„Ey, was plärrst du hier rum?“

„Er lässt mich nicht mit seinem Spielzeug spielen.“

„Wer?“

„Der Junge da.“

„Dann geh hin und hau ihm eine. Hau ihm aufs Maul und nimm’s ihm weg. Bist doch ein Junge, oder?“

„Aber er hat doch ’ne Brille.“

„Dann hau genau auf die Brille, du Angsthase! Hau ihn, bis er blutet, dann gibt er’s dir. Und egal, ob wir hier von Blut reden oder nicht, du bist doch mein Junge, oder? Wenn dir einer was sagt, hau einfach zu, überleg nicht lange.“

Der sechsjährige Klein Arthur wippte auf den Fersen und ging unentschlossen in Richtung des kleinen Jungen, der ungefähr 20 Meter entfernt im Sand spielte.

Warum suchst du Streit, wir sind doch gekommen, um ein bisschen Luft zu schnappen.“

„Sag mal, geht’s noch? Hast du jetzt jede Scham verloren, dass du mir hier so was sagst, du Mondkalb?“, schnitt Hambo ihr das Wort ab, dann blickt er auf und betrachtete die äußere Erscheinung seiner Frau.

„Was hast du denn an?“

„Wie ‚was‘, ein Spaghettikleid halt.“

„Die Lektion von gestern hat nicht gereicht, ich seh’ schon. Und dein Gesicht, warum zeigst du’s den Leuten nicht auch, so wie du allen deine Beine zeigst? Los, geh und zieh dir wieder was an, du Nutte. Das, was du vorhin im Auto anhattest.

Seine Frau rückte ihren Schal zurecht, der das Blau unter ihrem Auge verdeckte, dann wandte sie sich ab und ging. Sie trug einen rosa Rolli über dem bunten Spaghettikleid, damit man die blauen Flecken an Hals und Armen nicht sah.

„Mein Vater hat immer gesagt: ‚Sobald du den Eindruck hast, dass es richtig ist, hau sofort zu, überleg nicht lange. Wer schlägt, hat recht‘“, rief Hambo seiner sich entfernenden Frau hinterher. „Mein Vater war wirklich ’n guter Mensch. Nachdem er aus’m Knast raus war, hat er mir den ganzen Tag was beigebracht. Ich mach aus dem Welpen ’nen Jungen, auch wenn da dein dreckiges Blut mit drinsteckt. Du hast ihm die Wurzeln versaut.“

Er streckte die Hand nach der Wodkaflasche aus, die neben ihm auf dem Falttisch stand, da fiel sein Blick auf seine Töchterchen, die am Ufer spielten.

„Boah, hast du die auch ausgezogen? Was bist du denn für eine? Nimm die auch mit! Und wehe, wenn mir zu Ohren kommt, dass ihr mich hier für dumm verkauft!“

Die pralle Frühlingssonne blendete und brannte. Über dem See war keine einzige Wolke zu sehen. Gestern hatte er seine Frau ordentlich verkloppt und sie heute an diesem warmen Frühlingstag zur Wiedergutmachung an den Sewaner Strand gebracht, wo noch niemand war, außer den Eltern des fremden Brillenjungen, und sie saßen in der Ferne. Das Wetter war von Badewetter noch weit entfernt und er murmelte: „Sie lassen den Mann nicht einen Tag zu Hause bleiben, keiner kapiert, was ich leiste, ich zieh’ sie an, ich füttre sie durch, aber das versteht ja keiner. Wenn wenigstens dieser Esel von einer Frau das verstehen würde. Aber sie will ja bloß mit dem nackten Hintern vor anderer Leute Augen rumwackeln.

Doch dann kam Sargis aus dem Nachbardorf mit seinem dichten Bart und dem kleinen motorbetriebenen Schlauchboot. Hambo stand freudig auf.

„Los geht’s, Alter.“

Zur Frau:

„Pass gut auf das Auto auf, ey.“

„Es wird regnen“, sagte Sargis mit Blick zur brennenden Sonne.

„Regen bei dem Wetter, Alter? Siehst du eine einzige Wolke?“

„Papa, Papa, nimmst du uns auch mit?“ Seine Töchter rannten auf ihn zu, inzwischen trugen sie normale Stadtkleider.

„Angeln ist nichts für Mädchen, meine Süßen. Das Boot ist zu klein.“

„Papa, Papa, und ich?“

„Hast du den Jungen gehauen? Wo ist das Spielzeug? Noch in seiner Hand? Was bist du denn für’n Junge, dass ich dich mitnehmen würde?“

Klein Arthur ließ den Kopf hängen.

„Ey, nimm die Mütze ab, Junge.“

Klein Arthur blickte nach oben zu seiner Mütze, dann ließ er den Kopf wieder hängen.

Die Mütze nahm er jetzt schon seit zwei Jahren nicht vom Kopf, er trug sie Tag und Nacht. Wenn man versuchte, sie ihm mit Gewalt wegzunehmen, schrie er und wurde hysterisch.

„Ich fahr’ und komm’ wieder. Wenn du dich wie ’n guter Junge verhalten hast, nehm’ ich dich beim nächsten Mal mit und wir drehen ’ne Runde.“

 

Sie warfen die Angeln aus und Hambo setzte eine Mütze auf, die Sonne brannte. Während sie sich Zigaretten anzündeten, brachte Sargis sie mit langsamen Ruderschlägen voran. Doch die Angeln blieben ruhig, es gab keine Forellen.

„Mann, ist das mein Pech oder deins?“

„Hättest du Krebse gewollt, wär’s was Anderes. Wer angelt denn heute noch mit Blinkern Forellen?“

„Alter, du hast doch von nichts ’ne Ahnung. Ruder langsam, die spüren das.“

Rasend schnell zogen Wolken auf.

„Das ist mal ein Forellenwetter, Alter!“

Der Wind wurde stärker.

„Jetzt werden sie anbeißen. Wenn ich eine fange, ey, dann bring’ ich sie zum Strand und geb’ sie meinem Jungen, damit er ihrem Kopf gegen ’nen Stein schlägt und sie kaltmacht. Damit er das wahre Leben kennenlernt, die richtigen Freuden des Lebens.“

Aber alle Hoffnungen waren vergebens.

„Was machen wir, wollen wir zurück?“

„Lass uns noch ’n bisschen warten.“

Wie es auf dem Sewansee so ist, änderten sich Farbe und Wetter innerhalb einer einzigen Minute. Ein starker Wind kam auf und es fing an zu regnen, erst tröpfchenweise, aber dann schüttete es wie aus Eimern.

„Lass uns kehrtmachen, Alter, du hast einfach Pech, verdammt viel Pech.“

Sargis rollte die Angelschnüre ein, nichts hatte sie auch nur berührt. Er zog lange an dem Seil, das am Motor befestigt war, und versuchte, ihn so zum Laufen zu bringen. Schließlich sprang der Motor an. Das Boot dröhnte, als es mit immer größer werdender Geschwindigkeit durch die Wellen gen Ufer rauschte, von dem sie noch ziemlich weit entfernt waren. Es machte den Eindruck, sie hätten die Mitte des Sewans erreicht, aber Hambo wusste, dass das nicht stimmte.

Erfolglose Fischerei ist ein guter Grund, um nicht wie versprochen zu bezahlen. „Ich sag’s ihm am Ufer.“ Froh über seinen scharfen, weitsichtigen Verstand griff er nach der halb leeren Wodkaflasche, die unter der Sitzbank versteckt war. Er hatte den Deckel noch nicht abgeschraubt, da dröhnte das Boot ein letztes Mal und stoppte.

„Ey, Junge, was ist los?“

„Ich glaub’, das Benzin ist alle.“

„Alter, was bist du denn für einer? Du fährst auf den See, ohne das ordentlich vorzubereiten?“

„Na ja, ich hab’ gedacht, du gibst mir das Geld und ich tank’ danach, so viel werden wir schon nicht verbrauchen.“

„Na ja, dann bist du schuld. Bitteschön, hier sind deine Ruder.“

Sargis begann zu rudern, versuchte gegen den Wind anzukommen. Der Regen fiel wie eine Wand, im Schlauchboot sammelte sich schon Wasser, die Wellen schleuderten sie hoch und runter.

„Boah, an solche Wellen auf’m Sewan kann ich mich nicht erinnern.“

„Gibt’s oft“, murmelte Sargis ruhig und ruderte beharrlich weiter.

„Du musst das Wasser aus dem Boot kriegen“, sagte Sargis.

„Wer, ich? Bin ich dein Diener oder was, du Idiot.“

Aber es gab keine andere Lösung. Hambo zog eine Schöpfschaufel unter der Sitzbank hervor, verfluchte die ganze Welt und begann, träge und mehr zur Schau als zum Nutzen Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Er tat dies eine Weile, aber das Wasser wurde nicht weniger, im Gegenteil, es wurde mehr. „Die Nutte ist an allem schuld“, sagte er zu sich selbst. „Wenn sie sich gestern nicht falsch verhalten hätte, hätte ich die Hand nicht gegen sie erheben müssen und würde heute in aller Ruhe zu Hause sitzen, vor Juventus.“ Er konnte es seiner Frau einfach nicht verzeihen: Zweimal hatte er sie zu einer Abtreibung gezwungen, aber beim dritten und vierten Mal hatten seine Frau, die Ärzte und alle – einschließlich der ganzen Sippschaft der Frau – gelogen und ihm eingeredet, dass es ein Junge werden würde. Als Ergebnis wurden vor Klein Artur zwei überflüssige, schmarotzende Sorgen geboren, die Hambo das Leben schwer machten. Nur Klein Artur tröstete ihn einigermaßen, aber was für einen Jungen konnte diese Frau schon hervorbringen? Sie müssten ihn wegen des Ticks mit der Mütze zum Arzt bringen, aber er hatte keine Zeit und das Dummerchen konnte wirklich gar nichts ohne ihn! Wenn er Würme auf dem Kopf kriegt! So ungefähr war das. Immer diese schweren Gedanken in Hambos Kopf. Er trank einen Schluck Wodka, leerte zwei weitere Schöpfschaufeln Wasser, dann hob er den Blick und schaute zum Ufer. Es war immer noch weit entfernt und fast nicht zu sehen, der Regen war wie ein dicker Pfahl.

„Boah, ruderst du überhaupt?“

„Ich tu, was ich kann“, sagte Sargis. Sein Gesicht war gleichermaßen von Regen und Schweiß bedeckt. „Nur nützt das nichts.“

„Boah, aber hört der Regen auf dem Sewan nicht eigentlich so schnell wieder auf, wie er angefangen hat, Meister?“

„Je nachdem.“

Hambo ließ die Hand über die pralle Bootswand gleiten.

„Wenn dir die Puste ausgeht, stecken wir in der Scheiße.“

„Es wird nicht sinken“, murmelte Sargis ruhig und ruderte weiter.

„Was?“

„Es wird nicht sinken“, schrie Sargis.

„Du hast auch gesagt, das Benzin wird reichen“, brüllte Hambo verzweifelt gegen Wind und Sturzregen an.

„Benzin kostet Geld“, schrie Sargis belehrend zurück. „Das hier hab ich mit meiner eigenen Lunge gemacht.“

„Wenn sich die Lunge infiziert, geht dir die Puste aus“, murmelte Hambo. Er atmete schwer.

„W-was?“

„Nichts, mach einfach deine Arbeit!“, brüllte er wütend.

Plötzlich tauchte hinter der Regenwand ein gewaltiger Regenbogen auf, trotz des Regens, wie ein riesiges Tuch. Der Regenbogen reichte vom einen Ufer zum anderen, wie ein Berg.

„Scheinbar stimmt’s, dass der Sewan irre ist. Der Regen hat noch nicht mal aufgehört, da taucht schon dieses dumme Zeug hier auf. Guck dir den mal an!“, schrie Hambo.

Sargis hörte einen Moment lang auf zu rudern und wandte sich zum Regenbogen um, und in diesem Moment kam eine besonders heftige Welle. Sie erfasste das Boot und warf es in die Höhe, dann nach vorn, nach links …

Hambo fühlte sich wie damals, als die Jungs in der Armee ihm eine Falle gestellt und ihm mit dem Gewehrkolben von hinten auf den Kopf geschlagen hatten. Seine Augen weiteten sich und rollten nach oben und der Boden unter ihm – welcher Boden, das Wasser im Boot – entglitt ihm weg und verschwand. Er verlor das Bewusstsein.

Es war fast so, als wäre sein Schädel mit einem Kolben geschlagen worden, nur tat der Schädel diesmal nicht weh. Der Regen ließ nach, in der Luft war beißendes Ozon. Sarkis legte einen nassen Lappen auf Hambos Stirn. Er saß vor ihm und rauchte eine nasse Zigarette. Hinter dem Boot strahlte der Regenbogen.

„Was war los, Alter?“, kam es aus Hambo, er bewegte dabei kaum die Lippen. Er versuchte, im Wasser auf dem Bootsboden Halt zu finden und aufzustehen.

„Wir sind unter einem Regenbogen durchgekommen. So was passiert.“

„Was ist mir auf den Schädel gekracht?“

„Das war eine Welle, mehr nicht.“

„Gibt’s so was, Alter? Dass ein Mensch direkt unter einem Regenbogen durchkommt?“

„Nicht oft, aber manchmal. Mein Großvater hat erzählt, dass er mit einem Schriftsteller eine Spazierfahrt gemacht hat, da ist das auch passiert. Das war Awetik Isahakjan, glaube ich.“

Schnell wurde die Oberfläche des Sees so spiegelglatt, als wäre nichts gewesen, und die Wolken zerstreuten sich. Die einzige Spur des Gewitters war der herrliche Regenbogen, der noch lange hinter dem Boot strahlte und funkelte. Er verschwand Stück für Stück, so als würde der Gott des Gewitters Teilchen für Teilchen das Puzzle zurücknehmen, das er geschaffen hatte.

Er ruderte weiter und nach gut zwanzig Minuten brachte Sargis das Boot ans Ufer. Hambo stieg wankend aus dem Boot, ging zu seinem Liegestuhl und streckte sich aus.

„Vater, Vater, habt ihr was gefangen?“

„Nee du, es hat gewittert.“

„Bist du müde, Vater?“

„Glaubst du vielleicht, das ist ein Kinderspiel? Dein Vater hat mit’m Sturm gerungen.“

„Nimmst du mich jetzt nicht mit?“

„Ich sag’ Sargis, er soll ’ne kleine Spazierfahrt machen. Fahrt nicht weit, rudert einfach.“ Aber das bedeutete, dass er nicht nur den versprochenen Lohn, sondern sogar noch mehr bezahlen musste. Sein Blick suchte Sargis und er sah, wie seine Frau am Auto ihre Handtasche öffnete und Sargis etwas gab. „Als ob sie’s wäre, die bezahlt. Ich gebe ihr Geld und sie gibt’s aus, als würde sie mir damit ’nen Gefallen tun.“ Dann fielen ihm die Augen zu und im nächsten Moment schlief er tief und fest.

In der Abenddämmerung wachte er auf. Seine Frau und die Kinder hatten die Sachen zusammengepackt und warteten schweigend am Auto. Er war unsagbar schlecht gelaunt. Irgendetwas stimmte nicht.

„Rein da, rein da, nichts wie weg von diesem beschissenen Ort.“

Der Parkplatzwächter kam auf sie zu.

„Hol’s dir von Sargis, der hat heute gut verdient. Unserm Dummerchen sei Dank.“

„Es heißt, sie haben eine Quarantäne verhängt, die Polizei hat die ganze Strecke abgeriegelt.“

„Jaja, war schon klar, dass du keine guten Nachrichten für uns hast. Mach doch einfach deine Arbeit!“

Dann startete er den alten Pajero, fuhr wütend weg, kam auf die Schnellstraße, riss sich zusammen und fuhr weiter. Nachdem er eine Weile gefahren war, wechselte er auf den Seitenstreifen und hielt an.

„Meine Turnschuhe sind voller Wasser.“

Er zog die Turnschuhe aus, dann die nassen Socken, und warf sie, ohne sich umzuschauen, in Richtung seiner Frau. Der Schuh traf eine der Töchter im Gesicht.

„Ey, Mädel, musst halt besser aufpassen.“

Barfuß fuhr er weiter. Der Junge saß neben ihm, die drei Weiber hinten, sie waren still.

Er fuhr eine Weile, dann wurde er wieder langsamer.

„Ey, warum sind hier so viele Autos? Ey, ist das Absicht? Gibt’s hier jetzt noch mehr Schlangenkurven als vorher?“

Seine Frau sah ihn überrascht an, sagte aber nichts.

„Was guckst du mich hier schief an, glaubst du, ich merk’ das nicht? Ich seh’ das alles. Du bist echt mein Unglück. Kümmer’ dich doch um deinen eigenen Kram. Sie fahren alle nach Hause, es ist Sonntagabend und Quarantäne. Ey, wie fährst du denn?“, Hambo drückte mit aller Kraft auf die Hupe.

Zur Antwort hupte das Auto daneben.

Hambo hupte mit noch mehr Kraft.

„Ey, wie fährst du denn?“

Hinter den getönten Scheiben des Autos neben ihm erschien einen Moment lang eine junge Frau im Profil.

„Daran liegt’s. Das Auto vom Papa, da kommt die Blinde auf die Bühne. Keine Sorgen, kein Leid, kein Verstand.“

Die Frau sah ihn wieder überrascht an. Hambo spürte den Blick, aber diesmal erwiderte er nichts, sondern biss sich auf die Zunge. ‚Was ist los mit dir, ey, sag mal, raffst du’s noch? Der Junge war mal stark wie ’n Berg, jetzt ist er schwach wie ’n Kiesel‘, hörte er die Stimme seines Vaters.

Vor ihm tauchten die Lichter eines Polizeiautos in der Dunkelheit auf.

„Ey, was ist das denn?“

Er fuhr vorbei, sie hielten ihn nicht an. Je näher er Jerewan kam, desto langsamer fuhr er. Auf einmal wurde ihm übel. „Ey, wahrscheinlich haben diese Idioten den Wodka gepanscht, mich über’n Tisch gezogen und mir dann das Fläschen in die Hand gedrückt.“

Plötzlich ging ihm ein Zittern durch Arme und Beine, sie zitterten so sehr, dass er Angst hatte, ihm könne das Gaspedal entgleiten oder er würde das Lenkrad loslassen. So fest er konnte, umklammerte er das Lenkrad mit den Fingern; sie waren weiß.

Die Garage war am Stadtrand. Er schaffte es kaum bis dorthin.

„Bringst du uns nicht nach Hause?“

„Raus jetzt, macht euch auf den Weg. Ich hab’ zu tun.“

Schweigend gingen Frau und Kinder zur Bushaltestelle.

Er fuhr in die Garage, blieb eine Weile sitzen, stützte sich aufs Lenkrad und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er steckte die nackten Füße in die nassen Turnschuhe, schloss die Garage gerade so ab, ging zur Hauptstraße, winkte sich ein Taxi heran, öffnete die Hintertür und stieg ein.

„Warum setzt du dich da hinten hin, bist du ’ne Schwuchtel oder was?“, fragte der Fahrer, während er misstrauisch beobachtete, wie die unbeholfene Figur ins Innere kletterte, „ich fahr’ keine Schwuchteln.“

Er war kurz davor, zu explodieren.

„Kümmer’ dich um deinen Kram …“, hörte er sich selbst sagen, dann schwieg er.

Der Fahrer sah ihn im Spiegel an, sagte aber nichts weiter, sondern fuhr, wohin ihm geheißen worden war.

Hambo stieg aus und ging zum Hauseingang.

„Ey, aber das Geld?“

„Du sagst Schwuchtel zu mir und ich soll dir Geld geben, Spacko?“

Der Fahrer fluchte, spuckte und fuhr weg.

Völlig erschöpft betrat Hambo die Wohnung. Er legte sich auf’s Bett, ohne sich auszuziehen, und fiel in einen tiefen Schlaf.

Am Morgen, nein, am Mittag danach wachte er auf. Ging ins Bad. Er fühlte sich nicht mehr ganz so schlecht, aber irgendetwas stimmte nicht. Er war schwach. Seit fünf Tagen hatte er sich nicht rasiert und dachte faul, dass es heute unumgänglich sein würde. Aber als er sich das Gesicht wusch, schaute er in den Spiegel und erstarrte überrascht. Da war keine Spur von Haaren, die Bartstoppeln der letzten Tage waren verschwunden. „Hat mich die Idiotin rasiert, als ich geschlafen hab’? Sie muss das gewesen sein.“ Er berührte seine polierten Wangen. Da war nur ein leichter Flaum, so als hätte er sich noch nie rasiert, und auf seiner linken Wange war ein Muttermal.

An seiner Brust spürte er etwas Seltsames. Er zog sein Unterhemd hoch. Die Brust war gewachsen, beide Brüste hingen runter. Ja, er hatte einen dicken Bauch, gute, durchaus beträchtliche Brüste, muskulös, wie es sich für einen Mann gehörte, und er wurde ja auch älter. Aber so sehr?

„Was passiert mit mir?“

Auf der Toilette bekam er fast ein Herzinfarkt.

„Ruhig, ruhig“, sagte er zu sich selbst. „Das ist der Virus. Ist gekommen, hat mich angesteckt. Noch besser, dann sollen sie mal sehen, wie es ohne mich läuft. Dann soll diese undankbare Kuh das mal sehen und der Zwerg genauso, sein ganzes Leben lang wird es ihm leidtun, dass ich zehnmal gesagt habe, setz die Mütze ab, und er sie nicht abgesetzt hat.

„Doktor, mir geht’s schlecht.“

„Was ist passiert?“

„Das kann ich nicht erklären, aber ich glaube, ich hab’s mir eingefangen. Ich hab’ Kinder, bitte kommen Sie, ich will die nicht anstecken.“

Es war eine Frauenstimme, also nannte er seine Symptome nicht. Dann erfand er, dass er Fieber hatte und ihm schlecht war (da erfand er nicht viel). Nach dem dritten Anruf kamen sie schließlich.

„Ah, also deshalb sagen sie einem nicht, was mit einem passiert. Das ist nichts, was man jemandem sagen kann.“ Gleichzeitig war das Geheimnis so schwer zu bewahren, dass er das Gefühl hatte, er würde gleich explodieren. Aber wem sollte er davon erzählen?

Schließlich kamen sie. Pech gehabt, es waren eine Ärztin und eine Krankenschwester.

„Gab’s keinen einzigen Kerl, den man schicken konnte?“

„Sagen Sie’s mir, ich bin Arzt, mir können Sie alles sagen.“

„Das kann ich nicht. Frau Doktor, also … na, diese Dinger halt …“

„Ist es eine Geschlechtskrankheit? Sie haben kein Fieber. Sagen Sie’s, schämen Sie sich nicht.“

„Nein! Was für eine Geschlechtskrankheit! Ich hatte eine gute, saubere Ukrainerin. Nein, schauen Sie …“

Aber er konnte es nicht sagen.

Die Ärztin ging ins Nebenzimmer und wandte sich an seine Frau.

„Was ist mit Ihrem Mann passiert?“

Seine Frau antwortete, dass sie es selber nicht verstehe.

Die Ärztin sah der Frau streng ins Gesicht, umfasste ihren Kiefer mit der Hand und untersuchte den blauen Fleck unter ihrem Auge. Sie befahl ihr, die Ärmel hochzukrempeln. Sie sah die blauen Flecken und schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich an die Kinder. Mit einem Blick, der nichts bemerkte, betrachtete sie die Mütze des Jungen.

„Wer ist dieser Mann da?“

„Papa“, sagte eins der Mädchen.

„Was ist mit ihm passiert?“

„Er hat gestern viel getrunken, er ist auf dem Sewan in den Regen geraten.“

Alles klar.“

 

„Wir können Sie nicht mitnehmen“, sagte sie, als sie zurückkam. „Sie haben noch kein Corona und andere Patienten nehmen wir nur mit, wenn sie sterbenskrank sind. Legen Sie sich hin, dann kommen Sie langsam wieder zu Kräften. Und behandeln Sie Ihre Familie anständig! Wenn nicht, bringen wir Sie beim nächsten Mal woanders hin.“

Nachdem sie gegangen waren, schloss sich Hambo auf der Toilette ein und begann sich gegen den Kopf zu schlagen.

„So eine Scheiße, ja, so eine Scheiße, hätten sie doch verdammt noch mal einen Mann geschickt.“

Er rief Sero an, einen seiner wenigen Freunde.

„Na, Alter, was gibt’s?“

„Was soll’s geben, Alter, wir haben so viele Bestellungen, wir kommen nicht hinterher.“

Seros Business war der Handel mit Produkten vom Bauernhof. Dieser Tage lief es gut.

„Lass uns essen gehen, irgendwohin.“

Sero hatte weder Zeit noch Lust, mit Hambo ins Restaurant zu gehen. Hambo hatte die Macke, nachdem er mit den Jungs ins Restaurant gegangen war, im letzten Moment zu verschwinden, so als würde er auf Toilette gehen. Später rief er sie dann an und sagte, man habe ihn dringend auf Arbeit gebraucht, sie mögen seinen Teil mitbezahlen.

„Alter, du weißt doch, dass ich zu tun habe.“

„Nun komm schon, Alter, es ist wichtig.“

„Ich kann nicht, Alter. Was ist los bei dir?“

„Alter, einen Moment lang habe ich gedacht, dass ich mich angesteckt hab, aber dann ist ’ne Lady gekommen und hat nein gesagt. Die Fabrik steht still, was soll ich sonst noch sagen?“

„Das kommt schon in Ordnung, Alter, das wird nicht schlimmer. Das wird schon, Alter, hab keine Angst!“

Was kommt schon in Ordnung? Hambo war Aufseher in einer kleinen Fabrik. Der Besitzer zahlte regelmäßig und verlässlich, aber seit fünf Tagen durften sie nicht mehr arbeiten. Seit der Revolution waren die Geschäfte den Bach runtergegangen. Vorher hatte er Decksbindo gedient, da gab’s viel zu tun, aber nach der Revolution hatte Decksbindo sein Hab und Gut zusammengeklaubt und war nach Paris geflohen. Seinem treuen Hambo hatte er nur den Job in der Fabrik hinterlassen. Na ja, immerhin diese eine Sache, aber …

„Geht’s noch schlimmer als das hier?“, flötete Hambo in einem Singsang.

„Was?“

„Wie ‚was‘?“

„Was hast du gesagt, ich hab’ dich nicht verstanden. Spreche ich mit Hambos Frau? Geht’s ihm nicht gut, unserm Hambo?“

Hambo legte auf. Seine Stimme brach wie im Stimmbruch, nur umgekehrt. Er ging zurück ins Bad und betrachtete sein Gesicht. Die Augenbrauen wölbten sich zu einem Bogen und waren dünner geworden, die Augen schimmerten, die Lippen waren rot und satt wie mit Lippenstift bemalt. Er traute sich nicht mehr, nach unten zu schauen. Er warf einen kurzen heimlichen Blick, schaute aber sofort wieder nach oben. „Wenn wenigstens mein Bauch kleiner werden würde, dann hätte der ganze Fluch zumindest ein Gutes.“ Aber nein, der hervorstehende Bauch war vielleicht das Einzige, was unverändert geblieben war.

„Bring mir was zum Anziehen, ich geh’ raus.“

Die Frau brachte ihm eine hellblaue Maske und Gummihandschuhe.

„Mädel, sag mal, hast du sie noch alle? Ich kann mir doch so was nicht über’n Kopf ziehen und dann rausgehen! Sag mal, für wen hältst du mich eigentlich?“

„Was soll ich machen, was Anderes gibt’s nicht.“

„Hast du was gesagt? Bring mir deinen schwarzen Schal.“

„Der Schal ist zu lang.“

„Dann schneid was ab.“

„Ist das nicht schade drum?“

„Mädel, halt’s Maul! ‚Schade drum.‘ Mir geht’s dreckig und du faselst was von ’nem Schal. Weil du ihn gekauft hast, ist’s schade drum, ja? Wenn ich ihn gekauft hätte, wär’s nicht schade drum, oder? Mit wessen Geld hast du ihn denn gekauft?“

„Mit deinem. Mit deinem.“

„Mit wessen?“

„Mit deinem!“

„Mit wessen? Sag’s noch mal, ich hab’s nicht richtig gehört.“

„Mit deinem!“

„Sag’s lauter, damit die Kinder es hören.“

„Ich hab ihn mit deinem Geld gekauft!“, schrie die Frau.

Im Nachbarzimmer schwiegen die Kinder.

„Das ist was Anderes. Jetzt schneid was ab.“

Die Frau breitete den Schal über den Tisch aus, nahm die Schere, betrachtete den Schal von oben und zögerte.

„Boah, du Tölpel. Gib mal her!“

Ängstlich gab ihm seine Frau die Schere mit der Scheide zu ihr.

Er nahm die Schere und deutete mit der anderen Hand einen Faustschlag in die Luft an. Seine Frau floh zur Seite.

„Seit wann hast du denn Angst vor mir? Hab ich jemals mit ’nem Messer zugestochen? Aber du machst das schon richtig, du hast Angst, hab ruhig große Angst! Vielleicht wird’s dir in diesem Leben was nützen“, fuhr er fort, aber plötzlich spürte er ein so starkes Stechen im Bauch, dass er sich krümmen musste.

Er konnte sich gerade so auf den Beinen halten und dem Schmerz trotzen. Schweigend beugte er sich über den schwarzen Schal, schätze nach Augenmaß, setzte die Schere am Rand an und schnitt mit einer einzigen Bewegung ein Dreieck, dann ein zweites.

Eins band er sich ums Gesicht, das andere gab er seiner Frau.

„Das ist für dich. Nicht dass du sagst: ‚Mein Mann ist aus’m Haus gegangen und hat mir nicht geholfen.‘ Wenn du was brauchst, kannst du ins Geschäft gehen. Was Anderes bindest du dir nicht um, ist das klar? Meine Frau wird nicht mit ’nem hellblauen Verband aus’m Haus raus gehen, egal, was passiert. Nicht, dass ich das mitbekomme. Ich werd’ dich sogar in deinem Grab finden. Du weißt, wo das Geld ist.“

„Woher kannst du das?“

„Was?“

„Hast du im Knast nähen gelernt?“

„Ey, denkst du, ich bin so ein Tölpel wie du? Übertreib’s nicht, reiz mich nicht!“

Er rief eins der Mädchen. Sagte zur Frau:

„Sag ihr, sie soll auf den Zettel schreiben, was da stehen muss.“

Das Mädchen füllte den Zettel aus, Hambo zog seine schwarze Regenjacke an, setzte sich eine schwarze Mütze auf, band sich den schwarzen Schal vor den Mund und verließ die Wohnung.

Die Garage war weit von der Wohnung entfernt. In der Nähe der Wohnung hatte es zwar eine Garage gegeben, deren Besitzer sie an Hambo verkauft hatten, als sie nach Amerika gegangen waren, aber er hatte nicht bezahlt. Er hatte die Garage vor langer Zeit einfach in Beschlag genommen. Eines Tages waren sie zurückgekommen und der Besitzer hatte gesagt: „Gib mir das Geld oder verschwinde“, da hatte Hambo gesagt: „Ich scheuer dir gleich eine“, und noch ein paar nette Dinge über die Mutter des Besitzers, seine Großmutter und andere Verwandte. Am nächsten Tag hatten sechs schwarz gekleidete Männer Hambo umstellt, sein Auto weggeschafft und es gegen einen Baum gekracht. Es stellte sich heraus, dass der Drecksack seine guten Verbindungen nicht verloren hatte, obwohl er nach L.A. geflüchtet war. Gezwungenermaßen hatte Hambo die Garage vom Fabrikmeister Garik übernommen und ihm versprochen, ihn dafür zu bezahlen, es aber immer wieder verschoben.

Jetzt ging Hambo durch dunkle Straßen und versuchte, niemandem zu begegnen. Hier und da tauchten schwarze Schatten auf, die sich in den leeren Straßen wieder verloren, sie flohen voreinander auf die andere Seite, und ganz selten war da ein buntes Arschloch. Er riskierte es nicht noch einmal, sich in ein Taxi zu setzen, es war auch schade um das Geld, und ganz sicher würde er keine öffentlichen Verkehrsmittel nehmen.

Sobald er die dunkle Gestalt eines Menschen oder insbesondere eine Gruppe sah, schlug er einen anderen Weg ein. Vor der Polizei hatte er besonders große Angst, denn sie richteten ihre Taschenlampen auf die Leute. An einem Ort, er hatte es nicht vermeiden können, geriet er an fünf schwarz gekleidete Männer. Sie trugen schwarze Tücher vor dem Gesicht und gingen auf einem schmalen Pfad. Es gab keinen Platz, um auszuweichen. Als sie einander begegneten, versuchte er, das Gesicht abzuwenden, sich an ihnen vorbeizudrücken und zu verschwinden.

„Guckt euch den mal an“, sagte einer, „Alter, hast du Angst, dass wir dich anstecken? Wieso versuchst du, dich heimlich in Luft aufzulösen?“

Ihm schoss das Blut in den Kopf, er drehte sich um und wollte nach dem Mann schlagen.

„Alter, die hier, das ist ’ne Nutte. Guckt euch das mal an.“

„Na, du Vogelscheuche? Komm, Schwesterchen, lass uns ’n bisschen spielen.“

„Deine Großmutter ist ’n Schwesterchen“, sagte er und verpasste dem Sprecher einen Schlag auf die Nase.

Aber seine Muskeln waren schwach geworden, die Arme zwar so dick wie zuvor, aber statt seiner hingebungsvoll trainierten alten Muskeln waren da nur Fleisch und Fett. Er berührte das Kinn des Jungen nur ganz leicht und zog sich dann überrascht zurück.

„Ey, was für ’ne streitsüchtige Nutte.“

Der andere richtete die Taschenlampe seines Handys auf ihn.

„Guckt euch den mal an, das ist eine von den Tunten aus’m Park, verdammt noch mal.“

„Ey, Was für ’n Glück, dass wir dich heute treffen.“

Die Männer stürzten sich auf ihn. Nach einigen Schlägen fiel Hambo hin und sie traten ihm gut zehnmal in Bauch und Rücken. Er stöhnte nur leise, damit die Polizei nicht kam. In der Dunkelheit atmeten sie schwer, die fünf dunklen Schatten traten keuchend auf den sechsten ein, der auf dem Boden lag, so als hätten fünf Straßenhunde eine fette tote Ratte gefunden,

sie versenkten ihre ganzen kantigen Spitzschuhe bis zu den Hacken in seinem weichen Rumpf. Aber sie versuchten, Kopf und Gesicht auszusparen.

„Igitt, wie eklig! Kommt, gehen wir uns waschen, Alter, nicht dass der uns Pech bringt und das ansteckend ist.“

Hambo lag eine Weile wie ein Embryo auf dem nassen Boden, dann stand er irgendwie auf. Er stöhnte, seine Beine zitterten, der Mund war voller Blut. Er wischte ihn mit der Hand ab und hinkte zur Garage.

Im Auto betrachtete er sich selbst im Spiegel, wischte sich nochmals mit der Hand den Mund ab, aber er hatte nicht mal Wasser, um sich zu waschen. Er bedeckte das Gesicht wieder mit dem schwarzen Schal und fuhr zur „Ranch“.

Die Ranch war seine Rettung, eine kleine Fläche in der Nähe der ständig qualmenden Müllkippe der Stadt, eins von fünf Gebäuden: ein ordentlicher Garten, eine Einzimmerhütte aus Holz. Früher hatte sie einem Aserbaidschaner gehört und nachdem er weggezogen war, hatte sie einer in Besitz genommen und dann verkaufen wollen. Hambo hatte einmal einen guten Deal mit Branntwein in Krasnodar gemacht und war gut gelaunt zurückgekommen.

Der Typ wollte tausend Dollar, sie einigten sich auf dreihundert, letzten Endes bezahlte Hambo nur zweihundert. Es war sein Nest. Obwohl es sich in der Nähe der Müllkippe befand, kam der Gestank nicht bis dorthin, es gab Gärten, die ihn aufsogen und wie durch Zauberei neutralisierten. Hambos Garten war voller Obstbäume, unter anderem Sauer- und Süßkirschen, Äpfel, Birnen, Pflaumen und Aprikosen. Rund um die Zäune Sträucher mit Brombeeren und Johannisbeeren. Seit sie Hambo gehörten, waren die Bäume und Büsche vertrocknet, die meisten von ihnen trugen keine Früchte mehr, na ja, es gab eben niemanden, der nach ihnen sah, in manchen Jahren blühten sie nicht mehr, aber sie wurden immer noch grün.

Zum Glück war es Nacht, die obdachlose Familie von nebenan würde um diese Uhrzeit nicht rauskommen, und selbst wenn er rausginge, würden sie ihn nicht sehen können. Die Obdachlosen hatten illegalerweise neben der Ranch einen Trailer in Besitz genommen, sie hatten sieben Kinder, der Vater war ein ehemaliger Ingenieur, ein Säufer, der auf der Müllkippe nach irgendetwas Brauchbarem suchte und auch die Mutter, eine Absolventin der pädagogischen Uni, durchwühlte den Müll der ganzen Stadt. Fünf der sieben Kinder waren Jungen, einer jünger als der andere, auf eine Art hatten diese Leute wenigstens damit Glück. Jedes Mal, wenn er kam, rannten die Jungen auf ihn zu: „Herr Hambo, Herr Hambo, gib uns ein Stück Brot“, und er verscheuchte sie wie Fliegen. Eine Weile hielt er einen Kettenhund, Gina, eine gute große Hündin, die er extra tagelang hungern ließ, damit sie wie tollwütig wurde, aber eines Tages starb sie, weiß Gott woran. Sero sagte, sie sei verhungert, aber Hambo wusste ja, dass Gina wochenlang nichts fressen konnte und danach war es, als wäre nichts gewesen, sie wurde nur noch aggressiver, und das war genau das, was er wollte. Die obdachlosen Kinder mussten sie heimlich vergiftet haben, aber selbst nach Ginas Lebzeiten fürchteten sie sich davor, Hambos Ranch zu nahezukommen, selbst wenn er wochenlang nicht da war.

Er hielt das Auto an und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Es hatte aufgehört zu bluten, das Blut im Gesicht war getrocknet und plötzlich spürte er etwas Feuchtes zwischen den Beinen. Er streckte die Hand aus – wieder Blut. „Igitt, wie widerlich.“ Vielleicht sollte er seinem Leben ein Ende setzen? Was sollte man da sonst tun? Er stieg aus, hinkte zur Hütte, ging hinein, kletterte auf die übereinandergestapelten Wollmatratzen, die noch aus den Zeiten des Aserbaidschaners stammten, und schlief ohne einen weiteren Gedanken ein.

Am Morgen erwachte er vom Gezwitscher, von einem schillernden Konzert. In der Stadt hört man so was nie. Es gibt jedes beliebige Geräusch: Stare, Sperlinge, Tauben, Nachtigallen, die, die gegen die Bäume hämmern, und auch Krähen mit ihren Kriegsliedern und Liebesliedern, unbeschreiblich, wenn man so was noch nie gehört hat.

Er stand auf, die Beine von oben bis unten voller Blut, und ging in den Garten. Die Bäume blühten in Weiß, Rot, Gelb, in allen erdenklichen Farben, und als Hambo unter ihnen hindurchging, regneten Tau und der letzte, von der Nacht übrig gebliebene Regen auf ihn nieder. „Jetzt werd’ ich noch einer, der sich mit Tau wäscht.“ Hambo ging zu dem Wasserhahn, der am Wasserrohr befestigt war, und versuchte, das Ventil zu öffnen. Es war rostig und gab nicht nach, er versuchte es mit beiden Händen. Sein Blick fiel auf seine Finger, sie waren dünn, die Nägel sauber, ordentlich gefeilt und lackiert wie nach einer Maniküre. Gott sei Dank, wenigstens war die Hornhaut an seinen Fingern rau geblieben. Es gelang ihm gerade so, mit beiden Händen, die dabei wehtaten, das Ventil zu öffnen, sich zitternd mit Eiswasser zu waschen, genauer gesagt, darunter zu duschen, während er leise vor sich hin murmelte und über die Schmerzen jammerte; sein Körper war voller blauer Flecken. Zitternd ging er zurück zur Hütte, wo er ein Stück Stoff fand, das er zwischen die Beine presste, er nahm die Tischdecke und band sie sich um die Hüften, die Hose nützte ihm nichts mehr, sie musste gewaschen werden. Er legte die dreckigen Sachen auf einen Haufen und schob ihn beiseite. Die Hütte war furchtbar dreckig, sie war seit Jahren nicht geputzt worden. Seine Frau kam hier nicht her, und Hambo wollte auch nicht, dass sie kam. Letztes Mal hatte er hier mit den Jungs eine Party gefeiert und danach alles so gelassen: Die Teller und Gläser auf dem Tisch im Garten waren voller Schimmel. Er sammelte alles zusammen, brachte es zum Wasserhahn, wusch es, schrubbte es, trug es zurück und verstaute es sorgfältig. Er nahm einen Lappen, putzte die Hütte, holte den kleinen tragbaren Gasherd unter dem Tisch hervor, fand ein Streichholz und probierte ihn aus: Es gab noch Gas, er funktionierte. Als er das Streichholz sah, dachte er ans Rauchen, zündete sich eine Zigarette an, nahm einen Zug, hustete, spuckte, drückte sie aus und warf sie weg. Er öffnete den kleinen Kühlschrank: alles voller Essen. Als die Jungs beim letzten Mal zur Party gekommen waren, hatte jeder mitgebracht, was er konnte. Sie hatten so viel getrunken, dass sie nicht normal gegessen hatten. Sero hatte Unmengen von Quark mitgebracht, aber wer brauchte schon Quark; die Packungen waren wie Backsteine übereinandergestapelt.

„Ich muss das in Phasen abarbeiten.“ Hambo sammelte den ganzen Müll aus Hütte und Garten auf, schlug ihn in vergilbtes Zeitungspapier ein, das noch das Antlitz von Gorbatschow zeigte (er verwendete es im Winter zum Heizen), dann brachte er es nach draußen und warf es auf den Müllhaufen.

Der Müllhaufen war durch eine Nabelschnur mit der Hauptmüllkippe der Stadt verbunden, aber er war weit entfernt, am Ende des Viertelchens aus den fünf Hütten. Es war noch früh am Morgen, die Kinder der Obdachlosen hatten den Trailer noch nicht verlassen, der Vater war schon lange bei der „Arbeit“ und die Mutter leider noch nicht von ihren nächtlichen Raubzügen zurückgekehrt. Als er zurückkam, bemerkte er, dass sie aus dem Fenster schauten, dann sprang der dreijährige Junge aus dem Trailer nach draußen und schrie:

„Herr Hambo, Herr Hambo, gibst du mir ein Bonbon?“, aber dann verstummte er plötzlich und rannte weg.

In der Hütte fand Hambo die Pfanne, wusch sie aus, gab etwas Öl hinein, stellte sie auf den Gasherd, öffnete das Kirschmuraba, kippte den Quark in eine Schüssel, fügte ein paar entkernte Kirschen hinzu und etwas von dem zähflüssigen Muraba, dann schlug er zwei Eier auf und gab dies und das hinzu. Er steckte die Hände in den Teig, knete ihn und fing an, ihn zu braten. Mensch, das hatte er seit dreißig Jahren nicht mehr gegessen! Damals hatte es ihm seine Mutter gebraten. Seine Frau, nein, die machte so was nicht. Aber er hatte den Geschmack noch im Mund. Von der Ranch ging nun ein appetitlicher Bratduft aus. Die Kinder der Obdachlosen konnten es nicht glauben, zuerst kamen sie ängstlich näher, dann immer mutiger, sie drückten sich wie streunende Hunde an der Gartentür herum und spähten heimlich hinein. Hambo machte dreißig Stück. Die große Schüssel war voll, als sich schließlich der allerkleinste Penner traute, einen Pieps zu machen:

„Frau Hambo, Frau Hambo, gibst du uns was zu essen?“

Mit der Schüssel in der Hand ging er in den Garten, dann stellte er sie auf den Tisch. Die Quarkkeulchen dampften appetitlich und erfüllten den blühenden Garten mit dem Duft eines Märchenkuchens. Die Vögel unterbrachen ihr Konzert und versammelten sich stumm in den Baumkronen, um das Wunder unten am Tisch zu betrachten. Hambo wischte sich die Hände am Saum seines Tischdeckenrocks ab. Er hob den Rock mit einer Hand über den nackten, haarlosen Beinen etwas hoch, damit er beim Gehen nicht störte. Entschlossen stampfte er auf die Gartentür zu. Die Kinder rannten weg, noch bevor er die Tür öffnen konnte:

„Kommt, Kinder, die Quarkkeulchen sind fertig.“

Vom Misthaufen in der Ferne richteten sich sieben strahlende Augenpaare ungläubig auf Hambo.

Für Margo Dadajan

 

Zur Nachhaltigkeit und Weiterentwicklung der Idee von EVN Report startete das Goethe-Zentrum in Jerewan 2021 eine neue Kurzgeschichtenreihe ‘‘Post-Covid-Stories aus Armenien‘‘.

Die ersten zwei Geschichten aus der Reihe finden Sie auf Englisch und Armenisch unter den folgenden Links:

The Seat
House of Horror